Wenn schwangere Frauen Alkohol trinken, gehen sie ein hohes Risiko ein. Mitunter kommen ihre Babys mit starken Beeinträchtigungen zur Welt. Warum wird vor der Gefahr nicht deutlicher gewarnt?

Den ersten Kontakt mit Alkohol hatte Nina* als Baby im Bauch ihrer Mutter. Das Zellgift drang ungehindert zu ihr durch und richtete dauerhafte Schäden an. Nun braucht die 15-Jährige in der Schule Hilfe, zuhause die konsequente Unterstützung ihrer Pflegemutter. “Ich habe Konzentrationsprobleme”, sagt Nina, wenn sie nach den Auswirkungen ihrer Erkrankung gefragt wird. “Ich bin vergesslich, egal bei was.”

Nina hat FASD, fetale Alkoholspektrum-Störungen. Die Behinderung sieht man ihr nicht an. Die schlanke Jugendliche mit den langen, dunkelbraunen Haaren und blauen Augen sieht blendend aus. Auf den ersten Blick wirkt sie kerngesund. Doch schon bei kleinen Alltagsarbeiten zeigen sich Probleme. “Sie ist in ihrer eigenen Welt”, sagt ihre Pflegemutter Heike aus Bremen und erzählt, wie überfordert Nina etwa beim Aufräumen ist. “Sie hat keine Struktur. Sobald mehr als zwei Teile rumliegen, verliert sie den Überblick. Es ist keine Faulheit, sie kann es einfach nicht.”

Nach Angaben des FASD-Zentrums Berlin kommen in Deutschland jährlich bis zu 4.000 Babys mit Alkoholschädigungen zur Welt. Der Verein FASD Deutschland geht von 10.000 betroffenen Neugeborenen pro Jahr aus. “FASD ist die häufigste angeborene geistige Behinderung und zu 100 Prozent vermeidbar”, schreibt die Organisation auf ihrer Internetseite. Hans-Ludwig Spohr vom FASD-Zentrum Berlin sagt: “Alkohol ist eine sehr gefährliche Substanz, die in der Schwangerschaft irreversible Schäden anrichten kann.”

Der “Tag des alkoholgeschädigten Kindes” am 9. September soll darauf aufmerksam machen. “Der 9.9. ist ein Datum, das sich jeder gut merken kann. Neun Monate dauert eine Schwangerschaft”, schrieb die Drogenbeauftragte der deutschen Bundesregierung, Marlene Mortler, im Jahr 2015.

Menschen mit FASD leiden unter angeborenen Fehlbildungen, geistigen Behinderungen, Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten. Meist sind sie nicht in der Lage, ein selbstständiges Leben zu führen. Viele sind sozial isoliert. “Nina kann von sich aus keine Kontakte suchen“, sagt ihre Pflegemutter. “Sie hat viele Freunde, weil wir offen über die Erkrankung sprechen. Die Eltern ihrer Mitschüler wissen Bescheid und helfen.”

Betroffene Erwachsene haben es oft schwer. “Mehr als 80 Prozent sind ohne eine dauerhafte Beschäftigung und ohne Berufsausübung, viele müssen lebenslang betreut werden” sagt Spohr. Als großes Problem bezeichnet der Mediziner, dass es keine Möglichkeit gibt, junge Menschen auf FASD zu testen. “Die Diagnose ist schwierig. Häufig wird nur der Verdacht ausgesprochen. Das bringt den Betroffenen nichts, sie bekommen keine Hilfe.”

André Taubert, der als Vorsitzender des Bremer Vereins Faspektiven Betreuungskonzepte für Erwachsene mit FASD entwickelt, bestätigt das. “Sie wirken oft ganz gesund”, sagt er. Dass sie nicht in der Lage sind, einen Haushalt zu führen und Finanzen im Griff zu haben, werde oft nicht bemerkt. “Meistens führt es in die Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit oder Kriminalität. Es gibt wahrscheinlich unglaublich hohe Zahlen von Gefängnisinsassen mit FASD.”

Da unklar ist, welche Alkoholmenge in welchem Schwangerschaftsstadium gefährlich ist, raten Experten zum völligen Verzicht. “Es gibt keinen sicheren Schwellenwert, das ist individuell verschieden”, sagt Spohr, der sich seit über 40 Jahren mit FASD beschäftigt. “Es muss gelten: Kein Tropfen Alkohol.” Für alkoholische Getränke fordert der Verein sichtbare Warnhinweise. Es müsse unmissverständlich darauf hingewiesen werden, dass jeglicher Alkoholkonsum in der Schwangerschaft das ungeborene Kind schädigt.

Nach Angaben des Wissenschaftlers Spohr ist Unkenntnis ein großes Problem. “Viele wissen nichts von der Gefahr, Alkoholismus ist tabuisiert.” Als eine Risikogruppe nennt er junge Frauen, die mehrfach in der Woche mit viel Alkohol feiern und dann unerwartet schwanger werden. “Dann haben wir junge kräftige Mütter, die Alkoholkinder zur Welt bringen.” Wie häufig Schwangere trinken, zeigt eine Studie der Charité in Berlin: 58 Prozent der befragten schwangeren Frauen in Deutschland gaben an, gelegentlich Alkohol zu trinken.

Als Nina im Alter von vier Jahren zu ihrer Pflegefamilie kam, hatte diese noch nie etwas von FASD gehört. “Wir wussten, dass sie ein Kind drogenabhängiger Eltern war”, erzählt die Pflegemutter. “Wir dachten, mit viel Liebe und Geduld wird alles gut.” Dass Nina eine durch Alkohol verursachte Behinderung hat, wurde erst festgestellt, als sie zwölf Jahre alt war. Um Unterstützungen wie Hilfe für die Schule zu bekommen, musste die Pflegemutter erst einen Anwalt einschalten. “Es gibt viel zu wenig Hilfen”, kritisiert sie.

Wobei Nina Unterstützung braucht, hat sie gelernt. “Nach zehn Jahren weiß ich, was in ihr vorgeht.” Die Beziehung zu ihrer Pflegetochter habe sich durch die Diagnose FASD nicht verändert. “Wir würden für Nina genauso durchs Feuer gehen wie für unseren Sohn.”

*Die Namen der Jugendlichen und ihrer Pflegefamilie wurden auf Wunsch der Betroffenen geändert.

Quelle: APA