Du schenkst ihnen deine Zeit, deinen Schlaf, deine Liebe und eigentlich viele Jahre fast alles. Und eines Tages wenden sie sich bewusst von dir ab, gehen in die Welt hinaus und brauchen dich zeitweise scheinbar überhaupt nicht mehr.

Auf dem Weg zum Erwachsen werden durchlaufen unsere Kinder viele ganz unterschiedliche Phasen. Ihr Bedürfnis nach Nähe, Aufmerksamkeit und Kontakt in den ersten Lebensjahren weicht irgendwann ihrer steigenden Neugierde und ihrem wachsenden Selbstvertrauen. Ehe du es dich versiehst, sehnst du dich nach der Still-, Kuschel- und Tragezeit, die dir anfangs sehr viel Energie und Kraft gekostet hat, zurück. Dein Kind lernt laufen, klettern und wird schließlich flügge. Auf einmal kann es selbstständig essen, sich anziehen und möchte lieber alles alleine machen. Gefühlt nur einen Wimpernschlag später findet es den Weg zur Schule bereits auf eigene Faust und plant kurz darauf schon sein Auslandssemester in Übersee.
Spätestens jetzt wird dir wahrscheinlich bewusst, dass es auch ein Leben nach der Kindheit deines Kindes gibt. Du wirst immer die Mama deines Babys sein, mit dem kleinen feinen, aber nicht unwesentlichen, Unterschied, dass es nun schon lange nicht mehr dein Baby ist, sondern vielleicht sogar schon bald sein eigenes Baby haben wird.
Auf Wiedersehen Mama und Papa, hallo Großmutter und Großvater!

Was dann folgt sind ganz wunderschöne Jahre in denen du dich endlich wieder um dich selbst (deinen Partner und deine Enkeln) kümmern kannst.  Was bleibt, sind berührende Erinnerungen und sentimentale Gedanken an die Zeit in der deine Tochter oder dein Sohn noch wohlbehütet bei dir zu Hause lebte. Jahrelang warst du die erste oder zweite Person die dein Kind nach dem Aufstehen angeblickt hat. Jahrelang habt ihr gemeinsam gelacht, gelebt, gegessen und euren Tag besprochen. Jahrelang gab es immer wieder einen Kuss, eine Umarmung oder ein „Ich hab dich lieb Mama/Papa“ einfach so frei Haus, ohne jeglichen Anlass. Und plötzlich ist dein Baby eine erwachsene Frau oder ein erwachsener Mann die/der von dir auch als solche/r wahr- und ernstgenommen werden möchte.

Eine Beziehung auf Augenhöhe sollte auch für Eltern eines kleinen Kindes eine Selbstverständlichkeit sein. Doch spätestens wenn Kinder erwachsen werden, nimmt die Beziehung zu den eigenen Eltern eine andere Gestalt an. Sorgen, Wünsche und Entscheidungen haben dann teilweise eine noch weitläufigere Bedeutung für die Eltern und ihr Kind. Das Thema „Entelterung“ ist auch in deinem zu Hause ein Thema, wenn du dich beim Lesen dieser Zeilen wiederfindest. Ob diese gelingt oder misslingt ergibt sich aus der Summer der Erfahrung aller Beteiligten.
Die Erfahrungen aus unserer Kindheit, ja sogar die Lebensgeschichte unserer Eltern und Großeltern wirken ein Leben lang in unsere Lebensgestaltung hinein. Sie prägen nicht nur unsere Herangehensweise, unsere Wünsche, Träume und auch Ängste, sondern wirken sich auch auf unsere Beziehungen im späteren Leben ein. Vor allem in Liebesbeziehungen trifft man immer wieder auf die Einstellungen der Eltern im Gespräch mit seinem Partner/seiner Partnerin, obwohl diese gerade gar nicht anwesend sind.

Die Frage „Warum suche ich mir immer wieder den selben Typ Mann oder Frau aus“ oder „Wie kann es sein, dass mich dies oder jenes Verhalten so sehr aufregt“ findet oftmals seinen Ursprung in der frühen Kindheit. Viele Antworten auf Beziehungsfragen im Hier und Jetzt liegen in der erweiterten Familie, bei den eigenen Eltern, Geschwistern oder auch Großeltern.
Um sich voll und ganz auf sein aktuelles Leben und das Erleben in der Kernfamilie einlassen zu können, müssen die eigenen Eltern einen als gleichwürdigen Erwachsenen wahrnehmen lernen.
Indem du einen Schritt zurück machst und versuchst dein/e Kind/er als autonome Persönlichkeit mit seinen eigenen Entscheidungen, Einstellungen, Wünschen und Handlungen wahrzunehmen, wird es dir früher oder später gelingen euer beider Leben voneinander getrennt zu betrachten. Dieser Schritt soll keineswegs zu Entfremdung oder tatsächlicher Trennung führen, sondern euch einander vielmehr über die Jahre näher bringen. Rutschen die Eltern und Kinder einer Familie von ihrer Rollenverteilung als Ursprungsfamilie später in die Rolle gleichgestellter Erwachsener und ist diese Beziehung von gegenseitigem Verständnis und Respekt geprägt, kann die Neuverteilung der Rollen als Großeltern, Eltern und Kinder/Enkelkinder ungestört erfolgen.

Gelingt dieser Prozess nicht, ist die Beziehung zwischen Großeltern und Eltern oftmals von Sorge, Bevormundung oder Enttäuschung geprägt. Gefühle wie diese können sich massiv auf die aktuelle Paarbeziehung auswirken. Potenziale der neuentstandenen Familie bleiben leider oftmals ungenutzt, wenn das emotionale Gleichgewicht der Ursprungsfamilie in diese hinein wirkt. Der Einfluss der Ursprungsfamilie kann sich demnach äußerst positiv oder aber auch besonders negativ auf die Kernfamilie auswirken.

Nur durch eine gezielte Bereitschaft aller zu Selbstreflexion und einer offenen Auseinandersetzung miteinander, können sich starre Gedankenkonstrukte und Verhaltensmuster auflösen und eine neue, kraftvolle Beziehung zwischen den Erwachsenen entstehen. Dieser Prozess kann allen Beteiligten viel abverlangen. Es kostet nun mal einiges an Überwindung und Energie sich selbst neu kennenzulernen und die eigenen Gedanken- und Verhaltensmuster zu hinterfragen.
Wer es jedoch schafft selbstreflektiert, offen und wertschätzend durchs Leben zu gehen, erkennt früher oder später, dass zwischenmenschliche Differenzen ihren Ursprung oftmals in der Familie haben. Probleme die im familiären System entstanden sind, können auch nur in diesem Kontext gelöst werden.

Wenn du offen und neugierig beginnst immer wieder die Perspektive deiner Lieben einzunehmen, dir aber trotzdem treu bleibst, kannst du dich auf eine spannende Reise mit deiner Familie begeben. Wir wünschen dir Nerven aus Stahl, tagerhellende Erkenntnisse und herzerwärmende Momente.