Wir leben nun seit 14. März in „freiwilliger“ Quarantäne und halten uns strikt ans „Social Distancing“. Das sind 38 Tage, also 912 Stunden in denen unsere Tochter ausschließlich Zeit mit uns, ihren Eltern, verbracht hat. 

Davor war alles anders…

Unsere Tochter ging sehr gerne vormittags ein paar Stunden in den Kindergarten. Wäre es jedoch nach ihr gegangen, sie hätte nicht auf den Kontakt zu Gleichaltrigen bestanden. Ähnlich, wie andere Kinder in ihrem Alter, spielte sie, wenn überhaupt, gerne in der Nähe ihrer Mama oder ihres Papas. Auch die Kindergärtnerinnen beschrieben sie als ihren klitzekleinen Schatten. Sie war schon immer eine große Helferin und Plaudertasche, alleine oder mit Gleichaltrigen zu spielen interessierte sie bisher wenig. Während die anderen Kinder in unserer Umgebung nach und nach anfingen gemeinsam oder wenigstens nebeneinander zu spielen, wich meine kleine Madame nur in seltenem Fällen von meiner Seite. Einer dieser Fälle trat immer dann ein, wenn wir unsere Familie besuchten…was in der Regel ein bis zwei Mal pro Woche der Fall war. Am liebsten war es ihr, Zeit mit ihrer „großen“ Cousine, die gerade einmal 18 Monate älter ist, zu verbringen. Wenn die beiden miteinander blödelten, ging die Sonne am sonntäglichen Familientisch auf. 
Noch lieber, als mit ihrer Cousine die Köpfe zusammen zu stecken und zu kichern, war es ihr, ihren Tag mit Mama und Papa zu verbringen. Aus diesem Grund war unsere neugewonnene Zeit zu dritt zu Hause für sie anfangs offensichtlich ganz wunderbar. Sie blühte regelrecht auf und genoss die Zeit zu Hause, nur mit Mama und Papa in vollen Zügen. „Social Distancing“ war für sie ein Fremdwort, denn es hatte sich ja für sie nichts geändert. Einzig, dass wir nun mit Opa, Oma, Tante, Onkel und Cousine telefonierten, anstelle sie zu sehen und ihnen vermehrt Videos schickten, als zu ihnen auf Besuch zu fahren, war neu für sie. Es tangierte sie jedoch scheinbar nicht im Geringsten.

Die Kindheit – eine sensible Zeit

Vor drei Tagen war es dann so weit. Wir trafen zufällig eine ihrer „Kindergartenfreundinnen“ bei unserer täglichen Runde ums Haus. Plötzlich und für mich vollkommen unerwartet, lief sie auf sie zu, weil sie ihr unbedingt etwas sagen wollte. Der Moment indem ich sie gerade noch so zurück hielt, war für sie der Moment in dem es ihr sichtlich wie Schuppen von den Augen fiel. Es war nicht länger ihre freie Entscheidung Abstand zu all den anderen Kindern zu halten, sondern es war Gesetz. In diesem Moment brach es mir das Herz sie so zu sehen. Sie war sichtlich irritiert und wollte, auch in meinem Beisein aus sicherem Abstand, nichts mehr zu ihrer „Freundin“ sagen. Ich habe das bittere Gefühl, das war ein entscheidender Moment in ihrem Leben. 

Ihr Papa und ich hatten sie nie dazu gedrängt mit anderen zu reden, zu spielen oder sonst irgendwie in Kontakt zu treten, wenn sie sich dazu noch nicht bereit fühlt. Es war nicht immer leicht diese Überzeugung auch anderen deutlich zu machen, doch es war uns immer unheimlich wichtig, sie ihren eigenen Weg gehen zu lassen…nichts zu erzwingen oder beschleunigen zu wollen. Wir wussten, der Tag würde kommen an dem sie sich gegenüber anderen öffnet, wie sie es bei ihrer Cousine tat.


Und da war er, der Moment in dem sie voller Freude und kindlichem Frohsinn leichtfüßig in die Welt lief. Ein Moment wie dieser ist einzigartig. Klar, ich denke nicht, dass sie fortan nie wieder auf andere zugehen wird. Aber ich kenne meine Tochter und ich denke, ein Augenblick wie dieser kann prägend sein. Es gibt Kinder die von Geburt an selbstbewusst und vehement auftreten und dann gibt es Kinder die gerne zuerst beobachten um dann in sicherem Abstand Fuß zu fassen. Zweitere brauchen eine Menge positive Erfahrungen um den nächsten Schritt zu wagen.
Auch wenn ich mir absolut sicher bin, dass unsere Tochter ihren Weg gehen wird und ich (bisher) mit der Ausgangsbeschränkung der Regierung absolut konform ging, tat mir dieser Moment so richtig in der Seele weh.

Kinder brauchen Kinder um sich.

Bestimmt nicht rund um die Uhr und auch nicht nur zum Spielen, sondern ebenso um einander zu beobachten, um voneinander zu lernen und vor allem um miteinander zu lachen und zu weinen.
„Social Distancing“ ist, in Zeiten wie diesen, im wahrsten Sinne des Wortes unumgänglich. Schön langsam habe ich Sorge, dass es nicht länger nur zu „Physical Distancing“ führt, sondern, vor allem für die Jüngsten unter uns, schwerwiegende soziale Folgen, im Sinne von zwischenmenschlichen Problemen, nach sich ziehen wird. Ich bin überzeugt, dass die Trennung von unseren Familien, Freunden und Gleichgesinnten auf lange Sicht Spuren in der kindlichen Seele, ja vermutlich sogar in unser aller Seelen hinterlassen wird. 

Die Kindheit ist die prägendste Zeit in unserem Leben. Die Basis für unsere weitere Entwicklung, unsere Herangehensweise an zukünftige Herausforderungen und unseren emotionalen Zugang zu unseren Mitmenschen wird in den ersten Lebensjahren gelegt. 

Wie lange können wir noch warten?

„Noch sind es erst 38 Tage in denen wir unseren Kindern eine der wichtigsten Bausteine für ihr weiteres Leben vorenthalten. Was macht es schon aus in einem Leben, wenn wir einmal ein bis zwei Monate auf etwas verzichten müssen? Wir wissen ja gar nicht mehr, was es eigentlich bedeutet auf etwas verzichten zu müssen. Fragt doch mal eure Großeltern, sie haben noch den Krieg erlebt. Das war viel schlimmer als ein paar Wochen „Social Distancing“ und trotzdem ist etwas aus ihnen geworden. Es sind doch nur Kinder, sie vergessen doch das meiste was in den ersten Jahren passiert ohnehin.“

Ich wünsche all den Kindern da draussen (oder soll ich besser sagen „drinnen“), dass sie die Zeit des „Social Distancing“ als Ausnahmesituation und nicht als Beginn der neuen Realität in Erinnerung behalten. Ich möchte unsere Kinder wieder gemeinsam laufen, lachen und leben sehen…um ihretwegen und um unseretwegen… denn was mir wirklich fehlt,  ist sonntäglicher Sonnenschein…