Kinder sind von Natur aus unvoreingenommen, offenherzig und frei von jeglicher Erwartung. Wenn ein Kind zur Welt kommt, bringt es, im Vergleich zu einem Erwachsenen, nur eine Hand voll Erfahrung mit auf diese Welt. Unsere Erfahrungen prägen unseren Charakter. In der Regel sind es sie die unser künftiges Verhalten, unsere Einstellung und unsere Sicht auf die Welt grundlegend beeinflussen.

Meine Tochter hat, mit ihren nicht mal eineinhalb Jahren, das Winken für sich entdeckt. Allem und jedem wird aktuell freundlich zu gewunken. Dabei ist es ihr völlig egal ob es sich dabei um ein Lebewesen oder einen Gegenstand handelt. Als wir vor Kurzem im Wald unterwegs waren, beobachteten wir ein paar Hummeln bei ihrer Arbeit. Sie bekamen natürlich auch eine freundliche Winkbegrüßung. Danach kam eine Wespe angeflogen und wenig später entdeckten wir ein paar feuerrote Käfer. Mir wurde bewusst, dass ich zu jedem dieser Lebewesen eine eigene Einstellung habe und diese auch durch meine Sprache an meine Tochter weitergab. „Oh schau mal, eine Hummel“ rief ich begeistert, da ich Hummeln sehr mag. „Ui, da kommt eine Wespe“ sagte ich mit nobler Zurückhaltung und vermutlich auch etwas Ablehnung in der Stimme, als ich sie entdeckte. „Und da sind ganz rote Käfer“ hörte ich mich etwas angewidert erzählen.
Meine Erläuterungen hatten keinerlei Einfluss auf die Reaktion meiner Tochter. Allem Getier wurde gleichermaßen freundlich zu gewunken.
Als mir dies bewusst wurde, wurde ich nachdenklich. Eigentlich, so dachte ich mir, ist der Zugang unserer Kinder ein schöner. Ich würde mir wünschen, ähnlich unvoreingenommen wie meine Tochter zu leben. Der Gedanke, dass auch sie aufgrund von Erfahrung eines Tages Vorurteile entwickeln wird, machte mich betroffen. Klar, unsere Erfahrung lehrt uns auch sehr viel, was von großer Bedeutung für unser Überleben und unser Wohlbefinden ist. Es schützt uns vor Gefahr und hilft uns mit den alltäglichen Anforderungen in unserem Leben zu Recht zu kommen. Doch manchmal schränken wir uns vermutlich auch durch vorschnelles Urteilen in unserer weiteren Erfahrungsvielfalt ein.
Rassismus, Angst vor Unbekanntem und übertriebene Vorsicht verträgt sich nicht mit Unvoreingenommenheit. Ich denke, viele meiner Tage wären bunter, wenn ich ein wenig mehr wie meine Tochter durch die Welt gehen würde.
Neben einer klaren und leichtfüßigen Art die Welt zu betrachten, denke ich, ist der kindliche Zugang auch der beste Weg um überhaupt neue Erfahrungen machen zu können. Wege entstehen indem man sie geht. Würde ein Kind nach dem ersten Mal stolpern aufhören das Gehen zu übern, würde es niemals laufen lernen. Würde ein Kind nach der ersten Beule am Kopf die Freude am Klettern in Angst und Vorsicht verwandeln, könnte es niemals sein Körpergefühl entwickeln. Würde ein Kind, nachdem es sich zum ersten Mal vor einem Tier erschreckt allen Tieren ausweichen, könnte es nie die Erfahrung machen wie wunderbar kuschelig, liebevoll und interessant so ein Tier sein kann.

Wir Erwachsenen sollten uns unsere Kinder viel öfter zum Vorbild nehmen. Ihr Durchhaltevermögen trotz wiederholtem Frust, ihr Feingefühl trotz ihrer Grobmotorik und ihrem fehlenden Wissen über die Zusammenhänge dieser Welt, sowie ihre Art die Welt zu betrachten…neugierig, fasziniert und unvoreingenommen, ist einfach einzigartig. Ich denke, dies ist für viele Menschen ein entscheidender Beweggrund, überhaupt ein Kind zu bekommen. Unsere Kinder zeigen uns eine Welt in der wir einmal lebten, die wir aber vor langer Zeit verlassen haben. Diese Welt hält wahre Wunder, eine Menge guter Gefühle und spannende Erfahrungen bereit.

Es wird der Tag kommen, da ist es auch mit der Unvoreingenommenheit meiner kleinen Madame vorüber. Ihr fröhliches Begrüßungswinken wird einer Skepsis oder vielleicht sogar vorsichtiger Zurückhaltung weichen. Ich wünsche ihr, dass sie sich ein Stück der bunten, freundlichen Welt behalten kann…ihr zuliebe und mir zuliebe…